Irgendwie klingt es bereits wie eine Binsenweisheit. Um die richtigen Talente nicht nur zu finden, sondern auch bei der Stange zu halten, muss das Recruiting ausgetretene Pfade verlassen und sich ständig neu erfinden. Das bedeutet zuallererst, dass man sich von der Idee verabschieden sollte, es könne nur eine einzige Strategie geben, die für alle gleich anwendbar ist. One size fits all ist aber längst passé, gerade bei der Generation der Digital Natives. Vielmehr sind flexible Lösungen gefragt, die sich ständig weiter entwickeln lassen, anpassungsfähig an die jeweiligen Bedürfnisse der Kandidaten und der Organisation sind, aber vor allem auf automatisierte Prozesse setzen. Doch da beginnen bereits die Probleme. Zuerst sollte man genau wissen, was die Talente von ihrem potentiellen Arbeitgeber so alles erwarten. Ist dies geschehen, lässt sich der gesamte Bewerbungsvorgang genau zu dem Erlebnis gestalten, das von jungen High Potentials heute eingefordert wird. Zudem sollte die Botschaft verinnerlicht werden, dass Learning und Recruiting irgendwie zusammengehören. Und in diesem Zusammenhang kommt dann auch KI ins Spiel.
Eines ist sicher: Die Machtverhältnisse haben sich grundlegend verändert. Die Zeiten, in denen Talente ihren potentiellen Arbeitgebern hinterherlaufen, sind endgültig vorbei – trotz Coronakrise. Das bestätigt sich gleichfalls bei einer Umfrage auf der jüngsten Cornerstone-Talentpro-Online-Konferenz im Oktober, bei der 50 Prozent der Teilnehmer angaben, ihr größtes Problem beim Recruiting sei, die richtigen Kandidaten an die Angel zu kriegen. Weitere 38 Prozent haben Schwierigkeiten, überhaupt Bewerbungen zu bekommen. Heute verstehen sich junge Job-Suchende als Kunden mit sehr unterschiedlichen Erwartungshaltungen. Und die wollen alle bedient werden, möglichst in Echtzeit. Wer beispielsweise drei Wochen warten muss, bis er oder sie nach der ersten Kontaktaufnahme mit einem Arbeitgeber eine Antwort oder Einladung zum Vorstellungsgespräch erhält, sucht sein Glück sofort woanders. Deshalb sind Aspekte wie ein intuitiver sowie zeitnaher Bewerbungsfluss ebenso zu Schlüsseln im Recruiting geworden wie auch das Instant-Feedback, wobei es gleichfalls wichtig ist, die richtige Balance zwischen einem sensiblen Umgang mit den Daten der Kandidaten und ihrer intensiven persönlichen Betreuung zu finden.
Transparenz, Offenheit und Wertschätzung sollten bereits im Vorfeld in der Formulierung der Stellenausschreibung zum Ausdruck kommen, wobei der Gebrauch einer gendergerechten Sprache ein nicht zu unterschätzender Faktor ist. Unabhängig von Geschlecht oder Herkunft muss sich jeder angesprochen fühlen. Das signalisiert eine inkludierende Unternehmenskultur und trägt entscheidend zum Employer Branding mit bei, das sich im Wettbewerb um die richtigen Talente immer mehr zu einer handfesten Währung mausert, mit der sich ordentlich punkten lässt. Pre- und Onboarding sind dabei ebenfalls zentrale Aspekte – Kandidaten wollen im Vorfeld gerne wissen, mit wem sie es da eigentlich zu tun haben. Deshalb empfiehlt es sich, das gesamte Team, also Vorgesetzte und künftige Kollegen in diese Prozesse mit einzubinden. Von Anfang an sollte auch das Learning im Fokus stehen. Alle Optionen eines individuellen Up- und Reskillings, die im Unternehmen möglich sind, müssen gut erkennbar sein. Auf diese Weise lässt sich viel Authentizität erzeugen. Man gewinnt die Aufmerksamkeit der anvisierten Zielgruppe, hebt sich hervor und erzeugt so eine Spannung.
KI kann einen wertvollen Beitrag leisten, all diese Schritte zu beschleunigen und dafür zu sorgen, dass der Kontakt mit den Kandidaten nie abreißt und im Fluß bleibt. Sie wertet Lebensläufe aus, analysiert Jobinterviews und formuliert erste Empfehlungen, wer auf Anforderungsprofile passt und wer nicht. Oder ob man sich einen Kandidaten aufgrund besonderer Kompetenzen in der Hinterhand behält und zu einem späteren Zeitpunkt noch mal kontaktiert, kurzum das gesamte Pre-Screening und Testing wird begleitet. Weitere Beispiele für eine sinnvolle Automatisierung sind die Erstellung von besonderen Anzeigenvorlagen mit Bildern und Videos, die Suche nach geeigneten Bewerbern im TalentPool und externen Netzwerken wie Xing oder LinkedIn. User-Profile werden so kontinuierlich auf ihre Kompatibilität mit Anforderungen in der Stellenanzeige abgeklopft. Aber auch Eingangsbescheide, Weiterleitungsregeln sowie Auswahlschritte und die Kommunikation lassen sich mit Hilfe von KI automatisieren. Und auf den Karriereseiten von Unternehmen können Chatbots auf erste Fragen von Interessenten sofort reagieren und Antworten liefern. Der Vorteil: Sie lernen ständig hinzu, was wiederum die Recruitingszeiten deutlich verkürzt. Darin scheinen die größten Potentiale von KI zu schlummern, das belegt ebenfalls die Erwartungshaltung der Teilnehmer an der Cornerstone-Talentpro-Online-Konferenz. 55 Prozent wollen die Stellenerstellung und Publikation am dringendsten automatisieren, 27 Prozent das Prozedere rund um die Einstellung und das Onboarding. Doch eines darf man nie dabei aus den Augen verlieren. Maschinen können all diese Prozesse lediglich unterstützen. Überflüssig wird HR deswegen noch lange nicht.